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Wer niest denn da?

Mit diesem Jahrhundert traurig verflochten

Die schwarze Seife meiner Mutter

Miriam Loewy

Mit diesem Jahrhundert traurig verflochten

Die drei Leben der Ilse Herzfeld



Berlin, im Herbst 1998


Meine Freundin ruft an und berichtet, daß sie gerade in Luzern war. Ich frage sie, ob sie Ilse kennt, weil für mich der einzige Grund, nach Luzern zu fahren, der Besuch von Ilses ungefährer Grabstelle sein könnte. Meine Freundin hatte andere Gründe.

Ilse ist seit 12 Jahren tot. Sie ist anonym beerdigt worden, niemand kennt den Ort genau, an dem sie liegt. Es war so, wie sie es geplant hatte. Alle Papiere waren geordnet, der bescheidene Nachlaß war vorbereitet und verpackt. Sie ist geräuschlos aus der Welt gegangen wie ein Blatt, das vom Baum fällt.


München, April 1919


Ein zierliches junges Mädchen, gemeinsam mit dem Jahrhundert gerade 19 Jahre alt geworden, drängelt sich durch die Menschenmenge zu dem Redner, der unter Beifall das Podium verläßt.

Eine große Adlernase beherrscht ihr Gesicht. Ihre großen braunen neugierigen Augen und ihre Lebhaftigkeit machen sie sympathisch.

Der Redner ist Ernst Toller, Student wie sie, von dem es später in einem Steckbrief heißen soll: „Toller ist von schmächtiger Statur und lungenkrank, er ist etwa 1.65 bis 1,68 groß, hat ein mageres, blasses Gesicht, trägt keinen Bart, hat große braune Augen, scharfen Blick, schließt beim Nachdenken die Augen, hat dunkle, beinahe schwarze wellige Haare, spricht Schriftdeutsch”.



Er ist etwas älter als sie, 25 Jahre alt. Zu einer anderen Zeit oder in einer anderen Stadt hätte sie mit ihm und vielleicht auch mit Oskar Maria Graf, Erich Mühsam oder mit Gustav Landauer leidenschaftlich über Literatur diskutiert. Aber in München ist Revolution.

Am 4.April ist die Räterepublik ausgerufen worden. Am 8.April hat Ernst Toller den Vorsitz des Revolutionären Zentralrats übernommen. Ein paar Tage später wird er Abschnittskommandeur der Münchener Roten Armee werden.

Ernst Toller hat keine Zeit. Aber dem ernsthaften jungen Mädchen gelingt es doch, ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Sie bietet ihre Hilfe an. Er verspricht, darauf zurückzukommen. Die Ereignisse überstürzen sich. Sie wird ihn in diesem April nicht wiedersehen, auch nicht im Mai, auch nicht im Juni, jenem Monat, in dem er verhaftet wird.

Die Räterepublik hat nur einen Monat gedauert. Je nach Betrachter wird sie im Nachhinein als, ‘Lichtschein, der auf die dunkle Erde fällt’, als blutiges Fiasko, als Schreckensherrschaft, als Spitzbubenkomödie oder als exzessiver Fasching (Klaus Mann) bezeichnet werden.

Einen kurzen Monat lang haben Schriftsteller und Intellektuelle an der Spitze der Revolution gestanden. Gustav Landauer hat bereits am 2.Mai mit seinem Leben bezahlt, Erich Mühsam wird später im Konzentrationslager ermordet werden. Ernst Toller wird zu 5 Jahren Festungshaft verurteilt.

Ilse Herzfeld, das junge Mädchen, besucht ihn mehrfach in der Haft und bringt ihm gewünschte Bücher. Ein Jahr später verläßt sie München. Der Kontakt zu Ernst Toller reißt ab.







Dubrovnik, Februar 1936


Der in Illinois geborene William S. Burroughs lernt während eines kurzen Urlaubsaufenthalts in Dubrovnik eine 36jährige kleine zierliche Frau kennen, die, wie er für eine seiner späteren Biographien formuliert, „erfreulich unkonventionell” ist.

William S. Burroughs wird später einer der Hauptrepräsentanten der sogenannten Beat-Generation in den USA sein. Seine weltbekannten Romane „Naked Lunch” und „Junkie”, werden die andere, tabuisierte Seite der amerikanischen Gesellschaft in den siebziger Jahren, die Drogensucht, die Kriminalität und die Homosexualität beschreiben. Er wird im Mittelpunkt von Skandalen stehen und der Guru einer ganzen Generation sein.

1936 ist er noch nicht der berühmte Schriftsteller, sondern ein Medizinstudent in Wien.

Ilse hat 1934, nach dem Aufführungsverbot für die Musik Mendelsohns die Zeichen der Zeit verstanden und ist mit ihrem Mann, Dr. Ernst Klapper, nach Dubrovnik gegangen.

Sie gibt Sprachunterricht und macht Fremdenführungen durch Kroatien, sie spricht sechs Sprachen: Deutsch ist ihre Muttersprache, Englisch lernte sie schon in der Schule, Französisch galt ihr als Schlüssel zur Weltliteratur, Serbokroatisch lernte sie hauptsächlich, um ihre jugoslawischen Freunde zu verstehen, Hebräisch gehörte zu ihrer jüdischen Tradition und Russisch wollte sie können, um die Russen direkt selbst zu verstehen, ohne auf Übersetzungen angewiesen zu sein.







Dr. Klapper, ihr Mann, praktiziert ohne Zulassung als Arzt in Dubrovnik. Er wird oft von den Partisanen zur Behandlung ihrer Verwundeten in die Wälder um Dubrovnik geholt. Er kommt während eines solchen Einsatzes mit einer Gruppe Partisanen im Kampf gegen die Faschisten um. Ilse bleibt in Dubrovnik.

Zwischen Ilse Klapper und William Burroughs entwickelt sich eine Freundschaft, die auf gemeinsamen intellektuellen Interessen beruht und vor allem auf ihrer gemeinsamen Abneigung gegen alles Konventionelle. Burroughs ist 14 Jahre jünger als Ilse.

Als er, der Männerbeziehungen vorzieht, Ilse auf ihre knabenhafte Figur anspricht, erzählt sie ihm, daß sie vor vielen Jahren während eines Besuchs bei ihrer alten kroatischen Fischerfamilie beschlossen hat, etwas für ihre Figur zu tun:

Ich wollte ausschließen, daß ich jemals dick werden könnte und habe einfach ein Glas pures Meerwasser getrunken”. Sie zündet sich eine Zigarette an und fährt mit ihrer ruhigen, tiefen Stimme fort: „Diese Aktion hatte verheerende Folgen. Drei Monate lag ich im Krankenhaus, meine Magenwände sind für immer verätzt. Die Durchblutung meiner Hände und Füße ist für immer demoliert, ich werde nie wieder gutgewürzte Mahlzeiten essen können, muß seitdem sieben bis fünf Mal am Tag vogelkleine Portionen essen, damit mein beleidigter Körper überhaupt noch etwas verwertet”.

Unter ihrer Prinz-Eisenherz-Frisur wirkt Ilses große gebogene Nase noch größer, als sie wirklich ist. Ilse ist sehr schmal geworden seit ihrer Selbstreinigungsaktion.

Burroughs kehrt am Ende seines Urlaubs mit seinem Freund in die USA zurück.





Dubrovnik, März 1937


Ilse Klappers Visum für Jugoslawien läuft ab und wird, weil sie Jüdin ist, nicht verlängert.

Die Kriegsgefahr für Europa ist an allen Horizonten absehbar. Ilse weiß, was sie erwartet, wenn die Nazis Jugoslawien besetzen, sie macht sich keine Illusionen, sie ist in Panik.

Nach einer Blinddarmoperation trifft Burroughs mit einem neuen Freund zur Erholung in Dubrovnik ein. Ilse und er begegnen sich wieder.

Er kann weder ihre Verfassung noch die reale Gefahr, in der sie schwebt, übersehen. Sie beschließen eine Scheinehe zu schließen, damit Ilse in die USA fliehen und amerikanische Staatsbürgerin werden kann. Aber auch für ihn hat die Scheinehe einen Vorteil, er kann künftig seinen homosexuellen Neigungen nachgehen, ohne gesellschaftliche Schwierigkeiten zu befürchten.

Als der 25jährige seinen Eltern in den USA die bevorstehende Eheschließung mit einer 14 Jahren älteren Frau telegraphisch mitteilt, sind sie entsetzt, können aber nichts ausrichten.

Ilse und er fahren nach Athen und werden dort vom amerikanischen Konsul bürgerlich getraut, die griechisch-orthodoxe Trauung klappt erst, als sie in Athen einen Popen mit einem geringen Dollarbetrag bestechen.

Da die Papiere für die Einreise der frischgebackenen Ehefrau in die USA nicht sofort vorliegen, kehrt Ilse nach Dubrovnik zurück, Burroughs reist in die USA, um seine Eltern zu beruhigen.

Burroughs wird in den USA von der Einwanderungsbehörde genau verhört, weil der Verdacht besteht, daß er Ilse nur geheiratet hat, um ihr die Einreise zu ermöglichen. Er beschwört, Ilse zu lieben und sein Leben mit ihr bis zu seinem Tod verbringen zu wollen.




New York, Juni 1939


Der aus Nazideutschland emigrierte Schriftsteller Ernst Toller lebt in New York, wo er verzweifelt bemüht ist, eine humanitäre Hilfsaktion für zivile Opfer des spanischen Bürgerkriegs ins Leben zu rufen. Es gelingt ihm nicht, die spanische Republik bricht endgültig zusammen, als Franco und seine Anhänger eine erneute Offensive starten.

Ernst Toller ist von seiner jungen Frau verlassen worden.

Er verliert jede Hoffnung, als Künstler und sozialistischer Schriftsteller in den Vereinigten Staaten Fuß fassen zu können.

Ilse Burroughs ist seine Sekretärin.

Toller versucht sich einige Male, das Leben zu nehmen. Er wird jedesmal gerettet.

Seine wenigen Freunde kolportieren seine zeitlich genau kalkulierten Selbstmordversuche als geschickte Akte der Selbstdarstellung.

In seinem Buch „William S. Burroughs, Berichte aus dem Bunker”, gibt Victor Bockris ein Gespräch mit William S. Burroughs und Andy Warhol 1980 in New York wieder:

Bockris: „Sie (Ilse Burroughs) ist offensichtlich sehr reich”.

Burroughs: „Ich wüßte nicht, wieso sie reich sein sollte. Durch mich bestimmt nicht”.

Marcia Resnick: „Hat sie Dich geheiratet, um eine Green Card oder etwas ähnliches zu bekommen?”

Burroughs: „Ja, um den Nazis zu entkommen. Sie kam nach Amerika, und ihr erster Job war, für Ernst Toller zu arbeiten. Toller war ein sozialistischer Dramatiker und hatte damals einen gewissen Ruf.



Sie arbeitete als seine Sekretärin und hielt ihre Arbeitszeiten sehr korrekt ein und ging immer um exakt 1 Uhr zurück, nachdem sie Mittag gegessen hatte. Eines Tages traf sie einen alten Flüchtling auf der Straße, den sie aus alten Weimarer Tagen kannte, also gingen sie Kaffee trinken, und sie hatte sich etwa 10 Minuten verspätet. Als sie zurückkam, setzte sie sich an die Schreibmaschine. „Und dann” - Burroughs macht ihre Bewegung nach - ”hatte sie so ein merkwürdiges Gefühl im Nacken und wußte, daß Toller irgendwo hing.

Also ging sie zum Badezimmer, und sah, daß sich Toller auf der anderen Seite aufgehängt hatte, und schaffte es, ihn herunterzuholen. Er hatte schon mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen, hatte es aber immer so arrangiert, daß jemand rechtzeitig zur Stelle war, um das Gas abzudrehen oder den Krankenwagen zu bestellen. Der alte Flüchtling hatte ihm den Rest gegeben.”

Später hat Burroughs Tollers Tod auf seine Weise beschrieben: „Es gibt zwei Dinge, die Ratten nicht vertragen, daß man sie ins Wasser wirft und daß man ihre Barthaare verletzt, beides ist Toller passiert.”

Soweit Burroughs’ lakonische Kommentare zur Lebenstragödie Tollers und zum Standort seiner Frau.

An anderer Stelle bestätigt Burroughs seinem Biographen, daß seine Frau Ilse nie einen Cent von ihm verlangt hat.

1946 lassen sich Burroughs und Ilse in New York scheiden.

Ilse sucht nach Tollers Tod eine Stelle in einem großen Reiseunternehmen in New York und wird auf Grund ihrer vielfältigen Sprachkenntnisse schnell fündig. Sie lebt in einer kleinen bescheidenen Wohnung und wird von ihrem Bruder Arnold und seiner Frau, die auch vor Hitler nach New York geflohen sind, finanziell unterstützt.





Das Reiseunternehmen, in dem sie in leitender Stellung tätig ist, gewährt Ilse jedes Jahr mehrere kostenfreie Reisen, wohin immer in der Welt sie auch will.

So ist es ihr möglich, ihren ältesten Bruder in Israel zu besuchen und später, nach seiner Rückkehr, auch in Deutschland. Sie bereist die Welt, nimmt nach dem Krieg wieder Kontakt zu der alten Fischerfamilie in Dubrovnik auf und verbringt bei ihr die meisten Ferienaufenthalte während ihrer beruflichen Zeit bis zu ihrer Pensionierung 1965.

Sie bleibt noch drei Jahre in New York, versucht sich mit ihrer schmalen Rente und mit Unterstützung ihres Bruders zurechtzufinden, hat aber 1968 die amerikanische Politik, den Müßiggang und die ihr doch letztlich fremdgebliebene amerikanische Kultur satt und zieht für zwei Jahre mit einer Freundin nach Frankreich. In Frankreich wird ihr klar, daß sie ihren Lebensabend in Europa verbringen will und nicht nach New York zurückkehren wird.


August 1970, Luzern


Da ist sie wieder, die kleine, zierliche Frau mit der Prinz-Eisenherz-Frisur und der großen Nase zwischen den klugen braunen Augen. Sie hat wie immer eine glimmende Zigarette in einer ihrer schmalen Hände, die leichenweiß und verfroren in schwarzen Halbhandschuhen stecken.

Nachdem sie mir mit ihrem aus Amerika mitgebrachten „Komm herein, Miriam-Darling”, die Tür geöffnet hat, sie fügt das Wort ‘Darling’ fast allen Vornamen in ihrer Umgebung zu, besteht sie darauf, mir erst einmal, bevor wir uns in die Küche setzen, ihr gemütliches 2-Zimmer Domizil zu zeigen.





Ilse ist meine Großtante, die jüngste Schwester meines Großvaters, die Jüngste von fünf Geschwistern aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus Celle.

Eine große Kerze beleuchtet einen kleinen Tisch in der Küche, auf dem zwei Tassen, ein dampfender Kaffee und ein paar bunte Kuchenstücke auf einer ovalen Silberplatte auf uns warten.

In ihrem letzten Brief vor meinem Besuch bei ihr schrieb sie: „Daß man im Alter sieht, wie unwichtig „Haben” eigentlich ist, und daß es trotz vieler Miesigkeiten auf der mangelhaften Welt vieles gibt, was erfreulich und genußreich ist, kann ich Dir nicht eintrichtern, weil Erfahrung keinem Menschen eingeträufelt werden kann, wenn man ihn auch noch so gern hat, wie ich zum Beispiel Dich. Ich bin froh, durch Augen, Ohren, Nase, Poren viele schöne Dinge zu genießen, tat es schon immer und mit dem Alter und Detachiertheit gelingt es immer besser. Im übrigen absorbiert mich mancherlei völlig außerhalb der eigenen Verschalung, deshalb, so gern ich auch gelegentlich über meine eigenen Probleme oder Freuden rede oder Freunde über die ihren reden höre, so viel anregender ist es meiner Meinung nach, völlig unpersönliche Angelegenheiten zu bequatschen, Meinungsverschiedenheiten auszutragen oder Übereinstimmung zu finden.

Nachdenken, Lektüre haben, anderen Menschen zuhören, raten, wie sie gebacken und gebaut sind - Mieses und Erfreuliches zu beschnüffeln, solange es nichts mit einem selbst zu tun hat, macht mir Riesenspaß”.

Wir setzen uns in die kleine Küche, sie streckt mir ihre beiden weißen Hände hin und sagt: „Sieh mal, die verflixten Hände, eiskalt, fast gefühllos, nur wegen einer fixen Idee am Meer, in Dubrovnik, in der Jugend.”

Auch mit 70 hat sie eine ungebrochen schöne tiefe Stimme.





Als sie mir ihr kleines Schlafzimmer zeigt, in dem neben dem Bett auf dem Fußboden Bücher aufeinander gestapelt sind und Zeitungen herumliegen, fällt mir auf, daß sie nirgends in der Wohnung Photos hat, so hübsch eingerahmte, wie ich es aus den Wohnungen älterer Menschen kenne.

Ich frage sie danach, und sie nickt und sagt:

Photos braucht man vielleicht, solange die Menschen, die man liebt, noch leben, Darling, da kann man sehen, wie sie in bestimmten Lebensausschnitten aussehen. Aber wenn sie nicht mehr leben, hat man sie in der Erinnerung, im Herzen und im Kopf”.

Es stimmt, sie sind alle tot, ihre Geschwister, mein Großvater auch...

Wir setzen uns in die Küche, im Kerzenlicht reibt sie ihre weißen Finger und murmelt: „Diese verflixten Hände...”

Die paar Freunde, die noch leben, in den USA, Frankreich, Deutschland und Kroatien, besuchen sie, wenn sie auf der Durchreise von Irgendwo nach Irgendwohin sind auf der Durchfahrt. „Ich bringe sie alle in der netten Pension gegenüber unter, so wie Dich auch, Darling, Du siehst, die Wohnung ist zu klein für Logierbesuch und jetzt im Alter bin ich noch kauziger, als ich es früher war”.

Eine freundliche Nachbarin klingelt und fragt auf Schwitzerdütsch, ob meine Großtante etwas braucht, sie geht einkaufen und bietet an, wenn nötig etwas mitzubringen. Bei den vielen Sprachen, die sie kann, denke ich, ist Schwitzerdütsch das Fremdeste, was ihr begegnen kann. Sie bedankt sich sehr bei der Nachbarin, sagt ihr, daß sie heute schon alle Besorgungen selbst gemacht hat und setzt sich wieder zu mir:

Das, was ich vorhin über die Photos gesagt habe, meine ich so, daß man im Alter darauf achten soll, nichts Überflüssiges mit sich herumzuschleppen”,





sie unterbricht ihren Satz, nimmt meine Hand und geht mit mir an ihren kleinen Kleiderschrank, sie öffnet ihn, macht eine einladende Handbewegung; „Siehst Du”. Was ich sehe, ist eine akribische Ordnung, und was ich rieche, ist der wunderbare Duft der altmodischen Yardley-Seife, die auch meine Großmutter in ihren Kleiderschränken hatte. „Siehst Du, ich habe nicht ein überflüssiges Stück hier im Schrank, die Wollpullover sind deshalb in einer Plastikfolie verpackt, weil ich nicht möchte, daß zufällig Motten drankommen.” Sie schließt den Schrank wieder ab und fährt fort:

Ich habe weder etwas, was ich jemandem hinterlassen kann, wenn ich nicht mehr bin, noch jemanden, dem ich etwas hinterlassen möchte, deshalb habe ich auch bestimmt, daß man mich auf dem anonymen Friedhof an einer anonymen Stelle beerdigen soll, keiner soll nach meinem Tod Scherereien haben, Darling”. Wir sitzen wieder beim dampfenden Kaffee und sie legt ihre kalten Hände auf meine.

Ich frage sie, warum sie sich ausgerechnet in Luzern niedergelassen hat. Sie wirft einen Blick aus dem Fenster auf die Regenwolken, hinter denen man die Berge nur ahnen kann, und antwortet: „Miriamdarling, ich kenne New York und Paris zur Genüge. In Deutschland kann ich nicht leben.

Die Schweiz ist schrecklich spießig, aber genau das Richtige, wenn man leben will, ohne bemerkt zu werden. Außerdem liebe ich die Natur. Ich gehe jeden Tag mindestens 2 Stunden spazieren und freue mich über alles, was wächst. Luzern liegt sehr zentral. Meine Freunde können mich auf ihren Reisen ohne große Umwege besuchen”. „Und wovon lebst Du?”, will ich wissen. „Eine Freundin hat mir dieses Apartment zur Verfügung gestellt, so lange ich lebe”, sagt Ilse, „ich habe eine sehr kleine Rente, aber es reicht. Du siehst ja, ich brauche nicht viel”. Kurze Zeit später reißt die Wolkendecke auf.



Ein Stück blauer Himmel kommt zum Vorschein, Berge werden sichtbar, deren Spitzen noch immer von Wolken umhüllt sind. Wir machen uns auf den Weg zum See.

Ilse legt ein beachtliches Tempo vor. Am See bleiben wir stehen und sehen den Manövern der weißen Dampfer an der Anlegestelle zu.

Erzähl mir von Burroughs”, bitte ich Ilse. Obwohl die Luft am See angenehm warm ist und die Spaziergänger ihre Jacken und Pullover abgelegt haben, fröstelt Ilse. Sie zieht ihre Strickjacke enger um ihre Schultern und steckt ihre frierenden Finger in die durch eine Batterie aufgeheizten Handschuhe. Ihr Gesicht ist von gleichbleibender Blässe, als könne die Sonne ihm nichts anhaben. Ihre braunen Augen scheinen von dem Postkarten-Idyll am See leicht amüsiert.

Burroughs”, sagt sie dann - sie nennt ihn nie anders - „ist ein grundanständiger Mensch.

Sein Lebensstil und seine Freunde haben mir nicht gefallen. Ich habe seine Ehrlichkeit sehr geschätzt”.

Mehr zu sagen, ist sie nicht bereit. Sie spricht nicht gern über ihr Leben und lenkt das Gespräch lieber auf die Schweinereien in der Politik, über die sie sich immer aufs neue aufregen kann.

In ihrer kleinen Wohnung stapeln sich amerikanische, französische, deutsche und israelische Zeitungen, die sie täglich durcharbeitet.

Auf dem Rückweg spreche ich sie noch einmal auf Dubrovnik an. Dubrovnik ist immer noch die Stadt, in der sie sich am liebsten aufhält, eine Art Heimat eben. Wann immer es möglich ist, fährt sie hin und wohnt wieder bei der Fischerfamilie, nur sind inzwischen die Kinder ihrer alten Freunde ihre Gastgeber. Den kommenden September wird sie wieder dort verbringen.





Berlin, im Herbst 1998


Ich erzähle meiner Freundin einiges von dem, was ich über Ilse weiß.

Mit Ilse sind ihre Erinnerungen an München, an Dubrovnik, an New York gegangen.

Dubrovnik - ich stocke in meinem Bericht, als mir klar wird, daß Ilse der Krieg im zerfallenden Jugoslawien erspart geblieben ist. Sie hat nicht mehr miterlebt, daß sich die Volksgruppen gegenseitig abgeschlachtet haben. Für sie war Dubrovnik bis zum Schluß ein Zufluchtsort, eine Oase in einer Welt, in der sie sich spätestens seit ihrer erzwungenen Reise nach New York fremd gefühlt hat. Ich spüre immer noch, wie wenig heimisch sie in Luzern war - ein Gast, der seinen Koffer nicht auspackt, weil er jederzeit bereit sein will weiterzureisen.

Mehr als die Hälfte dieses Jahrhunderts hat sie so verbracht; sie hat ihre Rechnung bezahlt und ist wie ein Hotelgast mit unbekanntem Ziel abgereist.

Die Passanten, die den anonymen Teil des Luzerner Friedhofs besuchen, ahnen nicht, daß dort irgendwo Ilse Herzfeld-Klapper-Burroughs liegt, deren Leben so eng mit dem Jahrhundert verflochten war.


ENDE